Du bist ein Gott, der mich sieht. (1. Mose 16,13)
Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich als junger Pfarrer ganz frisch in meine Gemeinde kam und mich in meiner Kleinstadt noch kaum jemand kannte. Da wir in einer sogenannten „Diaspora“ leben, also evangelische Christinnen und Christen sich in der Minderheit befinden, war meine „Ankunft“ vor Ort auch kein großes Ereignis. Trotzdem wurde ich zu einer offiziellen Veranstaltung als „Ehrengast“ eingeladen. Ich betrat also den Raum und sah dort nur wenige bekannte Gesichter. Eine Gruppe hatte sich im vorderen Bereich versammelt, ganz offensichtlich weitere „Ehrengäste“. Darunter hauptsächlich Kommunalpolitiker und, unschwer an seiner Kleidung zu erkennen, mein damaliger katholischer Kollege.
Ich gesellte mich dazu und wurde tatsächlich auch begrüßt, aber das Interesse an meiner Person hielt sich spürbar in Grenzen. Ich war noch unbekannt und zudem auch „nur“ evangelisch. So stand ich zwar unter den Ehrengästen, aber mehr dabei als mittendrin. Ich wurde begrüßt, aber nicht gesehen. Das hat sich im Laufe der Zeit natürlich gewandelt. Aber diese Situation rief Erinnerungen an andere Situationen in Kindheit und Jugend wach, in denen ich es ähnlich erlebt hatte. Nur am Rande zu stehen, nicht „gesehen“ zu werden.
Übersehen zu werden, das bedeutet für viele: sich infrage zu stellen, sich zu schämen. Sie fragen sich: „Was ist mit mir?“ „Warum gehöre ich nicht dazu?“ „Weshalb bin ich Luft für sie?“ Und längst wissen wir, dass es tatsächlich solche Merkmale gibt, die Menschen ausschließen: Kleidung, Aussehen, Herkunft. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die einem selbst gar nicht bewusst sind. Aber sie führen dazu, nicht „gesehen“ zu werden. Und doch ist gerade dies ein ganz tiefes inneres menschliches Bedürfnis. Und wenn schon nicht geliebt, dann doch wenigstens gemocht und beachtet zu werden.
Ich habe solche Situationen nur punktuell erlebt und vermag mir gar nicht vorzustellen, was es bedeutet, ständig „übersehen“ zu werden. Immer das Gefühl zu haben, nicht beachtet zu werden. Manchen gelingt es vielleicht, dieses Gefühl zu kompensieren, indem sie in der Begegnung mit anderen immer wieder darauf hinweisen, dass sie ständig übersehen werden. Damit erreichen sie es, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, indem sie das Gegenteil behaupten.
Hagar aber, die laut dem 1. Buch Mose vom „sehenden Gott“ spricht, war wirklich eine Übersehene. Bitter hatte sie erfahren müssen, was es bedeutet, „benutzt“, ja in einem gewissen Sinne sogar „missbraucht“ zu werden. Hagar war eine Sklavin – und es traf sich, dass sie die persönliche Sklavin von Sara, der Frau des biblischen Stammvaters Abraham war. Sara und Abraham, ein durchaus wohlhabendes älteres Ehepaar mit einem wunden Punkt: Die beiden hatten keine Kinder. Dabei, so erzählt es die biblische Geschichte, hatte doch Gott selbst Abraham das große Versprechen gegeben, dass er nicht nur einmal Vater werden würde, sondern sogar der Stammvater eines ganzen Volkes.
Doch als es nicht klappen will mit der Zeugung, verlieren die beiden die Geduld. Sie entscheiden sich für eine Leihmutterschaft. Sara gibt Abraham ihren Segen, dass er mit der Sklavin Hagar schläft und sie ihm den lang ersehnten Sohn gebiert. So kommt es dann auch. Hager wird schwanger. Wie sich Hagar gefühlt haben mag? Als Gebärmaschine für Abraham? Missbraucht als Mittel zum Zweck? Und vielleicht doch auch mit der bescheidenen Hoffnung, eben doch nicht nur eine Sklavin zu sein? Gesehen zu werden?
Mit ihrer Schwangerschaft wächst dann auch bei Hagar das Gefühl: „Ich bin doch nicht nur eine Sklavin. Ich habe einen Wert, ich habe eine Bedeutung.“ Doch als Sara, ihre Herrin, das mitbekommt, holt sie diese recht schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie, die durch die unerfüllte Schwangerschaft selbst gekränkt und durch den Deal gedemütigt ist, behandelt die hochschwangere Hager so herabwürdigend, dass dieser nur die Flucht in die Wüste bleibt.
Wie viel Verletzungen und wie viele Kränkungen liegen in dieser Geschichte! Hagar steht zudem nun auch vor dem kompletten Nichts. Einsam, vertrieben, nicht einmal mehr gut genug als Sklavin. Ihr ganzes Leben in Scherben als alleinerziehende Mutter ohne Rechte und ohne Schutz. „Niemand sieht mich!“
Gott schickt einen Boten zu Hagar, der sie in ihrer Einsamkeit und Not aufsucht und lässt ihr ausrichten, dass er sich um sie kümmern wird, dass sie sich nicht aufgeben und ihr ganz persönliches Leben annehmen soll. Und er ermutigt sie, wieder zu Sara und Abraham zurückzukehren. Hagar erkennt: Du bist ein Gott, der mich sieht.
Die Geschichte geht weiter und Hagars weiterer Weg ist nicht auf Rosen gebettet. Zunächst gebiert sie Ismael, ihren und Abrahams gemeinsamen Sohn. Doch als Sara selbst, wie Gott es ihr ja versprochen hat, schwanger wird, da will sie sich gemeinsam mit Abraham der Sklavin endgültig entledigen. Und Hagar wird wieder mit ihrem Sohn in die Wüste geschickt. Und wieder spricht Gott ihr zu, dass sie nicht vergessen und übersehen ist und sie mit Ismael gemeinsam eine lebenswerte Zukunft erhalten wird.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Dieser Satz lässt mich an Jesus denken. Der den blinden Mann auf der Straße hört, an dem alle anderen vorbeigehen. Der die Frau mit den inneren Blutungen sieht, die ihn von hinten berührt. Der den von allen anderen verachteten Zolleinnehmer Zachäus sieht, der sich auf einen Maulbeerbaum verkrochen hat und sich dort versteckt hält. Und Jesus sieht sie nicht nur, sondern er heilt sie auf ganz unterschiedliche Weise.
Als Pfarrer habe ich schon so viele unterschiedliche Menschen kennengelernt und so viele Lebensgeschichten gehört, dass ich weiß: Kein Leben verläuft einfach nur glatt und rund. Und es gibt sehr viel mehr Menschen als wir glauben, die nicht gesehen werden. Die quasi unsichtbar durch das Leben gehen.
Selbst in Kreisen, die sich für besonders christlich halten, kann es geschehen, dass wir unsere Aufmerksamkeit besonders auf die richten, die sowieso schon im Rampenlicht stehen: die charismatischen Pastorinnen und Pastoren, Musikerinnen und Musiker, Gemeindeleiterinnen und -leiter. Und dass aber die übersehen werden, die im Hintergrund stehen. Sie sind da, aber niemand nimmt Notiz von ihnen.
Bei Jesus ist es anders. Sein liebender Blick fällt nicht zuerst auf die, die sich ihrer Wertschätzung durch Menschen sicher sein können. Jesus liebt und sieht besonders diejenigen, die sich durch ihren manchmal verwirrenden, trostlosen und frustrierenden Alltag schlagen. Die das vielleicht gar nicht spüren oder für möglich halten, weil sich ja sonst niemand für sie zu interessieren scheint. Aber wenn du ein solcher Mensch bist und wenn du genau dieses Empfinden hast, dann darfst du dir sicher sein: Jesus sieht dich! Er blickt dich an, mit unfassbarer Liebe. Du bist für ihn unendlich wertvoll, weil du du bist. An diese tiefe Wahrheit möchte die die Jahreslosung 2023 erinnern!
Geh in das Jahr 2023 mit all seinen ungewissen Wandlungen und Windungen in dieser Gewissheit, sodass du mit Hagar auch in den Wüstenmomenten deines Lebens sagen kannst: Du bist ein Gott, der mich sieht.